Pinnwand: Interessantes für Eltern & Lehrer

GESELLSCHAFT: Jungen werden gegenüber Mädchen benachteiligt 
(aus Die ZEIT 31/2002) 

Wissen 31/2002

 

Die neuen Prügelknaben

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Nicht Mädchen, sondern Jungen werden in Schule und Elternhaus benachteiligt. Doch die Erkenntnis setzt sich bei Pädagogen nur zögernd durch

von Sabine Etzold

Die Klasse ist außer Rand und Band. Eine Gruppe johlender Schüler hat einen Kreis gebildet, in deren Mitte zwei Jungen aufeinander einprügeln. Das geht schon ein paar Minuten so, und der Kleinere zeigt Schwächen. Er kassiert ohne Unterbrechung kräftige Schläge auf den Rücken, versucht, seinem überlegenen Gegner zu entkommen. Aber es gibt kein Entrinnen aus der Arena, und der Lehrer schaut zu - bis ein Gong der Klopperei ein Ende macht. Und siehe da: Die Gegner schütteln sich die Hand und reihen sich friedlich in den Kreis der anderen ein. Jetzt wird der Kampf besprochen. War er fair? Wurden Regeln eingehalten? Warum hat der Sieger nicht aufgehört, als klar war, dass er gewonnen hatte?

Der "Ringkampf nach Regeln" gehört zu einem Projekt, das der Tübinger Sozialpädagoge Reinhard Winter in Baden-Württemberg organisiert. Die Jungen sollen erfahren, wie es ist, Opfer zu sein und Angst vor anderen zu haben. Gleichzeitig lernen sie, so Winter, "die lust- und machtvollen Seiten der Gewalt" kennen.

Jungen in der Schule das Prügeln beibringen, das klingt genauso befremdlich wie das langfristige Ziel des Projektes: Jungen in der Schule zu ihrem Recht kommen zu lassen. Bisher nämlich schien es eine pädagogische Gewissheit, dass die Schule Mädchen benachteiligt. Das vernachlässigte "katholische Arbeitermädchen vom Land" musste jahrzehntelang als Symbolfigur für die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems herhalten. Feministisch inspirierten Reformpädagogen gilt die Mädchenförderung bis heute als besonderes Anliegen.

Doch die Förderung richtet sich an die falsche Adresse. Zahlen und Fakten belegen: Mädchen machen heute häufiger Abitur als Jungen. Sie bleiben seltener sitzen und haben im Schnitt bessere Noten. 55 Prozent der Hauptschüler sind Jungen, in den Sonderschulen verfügen sie sogar über eine Zweidrittelmehrheit. Das Schulsystem benachteiligt die Jungen.

Mädchen können besser lesen

"Schulversagen ist vor allem ein Jungenproblem." Darauf hat der Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz bereits vor Jahren aufmerksam gemacht. Die Pisa-Studie hat ihn nun bestätigt. Zwar schneiden Mädchen in Mathematik und den Naturwissenschaften (außer in Biologie) immer noch schlechter ab. Aber die Leistungsunterschiede fallen relativ gering aus. Ganz anders im Lesen, der Basiskompetenz allen Lernens in der Schule: Hier lassen die Mädchen die Jungen weit hinter sich, nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Sind Mädchen also schlauer? Nicht unbedingt.

Schulforscher wie Preuss-Lausitz weisen vielmehr darauf hin, dass sich die Anforderungen an die Schüler verändert haben und heute andere Qualitäten zählen als noch vor 30 Jahren. Und die sind in erster Linie weiblich. Mädchenstärken wie Sprachbegabung, Lesefreude, Kommunikationstalent und Teamfähigkeit gelten als Schlüsselqualifikationen für eine erfolgreiche Bildungskarriere. Dagegen werden traditionelle Jungendomänen wie Naturwissenschaften und Technik für die Karriere vermutlich überschätzt.

Jungen gelten als gefährlich

Schlimmer noch: Jungen werden allein aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert. Der US- Bestsellerautor William F. Pollack (Richtige Jungen), Männerforscher an der Harvard Medical School, macht eine Abwehrhaltung gegenüber Jungen in der Schule aus. "Da der Mythos, dass Jungen gefährlich sind, nach wie vor in vielen Schulen tief verwurzelt ist, nehmen Lehrer und Aufsichtspersonen ihnen gegenüber oft eine beinahe feindselige Haltung ein." Auch der Tübinger Reinhard Winter meint, dass Jungen ein schlechtes Image haben. Als er mit seinem Kollegen Gunter Neubauer Erwachsene nach ihrem Jungenbild befragte, war das Ergebnis fatal. Sie werden als sozial und sexuell inkompetent, kommunikationsunfähig und schwach im Bewältigen von Konflikten beurteilt. Sie gelten als problematisch, ihr Verhalten erscheint aufgesetzt. Positive Eigenschaften, die einen "guten Jungen" ausmachen, kamen dagegen kaum vor.

In der Schule schlägt sich diese Abwertung unbewusst unter anderem darin nieder, dass Jungen schlechtere Zensuren bekommen - auch wenn sie die gleiche Leistung erbringen. Das hat der Erziehungswissenschaftler Rainer H. Lehmann bei einer Untersuchung in Hamburg gezeigt: Bei dem für die Schulkarriere entscheidenden Übergang von der Grundschule zum Gymnasium werden deutlich mehr Mädchen vorgeschlagen, was "allenfalls teilweise durch ein höheres Leistungsniveau begründet werden kann".

Über die Ursachen der versteckten Diskriminierung stellt Lehmann nur vorsichtige Vermutungen an. Es sei möglich, dass eine "schulkonformere Einstellung" der Mädchen ihren Schulerfolg begünstigt. Im Klartext: Sie sind im Unterricht pflegeleichter und angenehmer für die Lehrer. Nur scheinbar dazu im Widerspruch steht die Tatsache, dass Jungen von Lehrern deutlich mehr beachtet werden. Jungen erhalten in der Regel zwei Drittel der Aufmerksamkeit des Unterrichts. Sie bekommen mehr Lob und mehr Tadel, Pädagogen geben ihnen mehr Blickkontakt und Rückmeldungen als Mädchen. Bislang wurde dieses Lehrerverhalten als Benachteiligung von Mädchen ausgelegt. Aber es lässt sich auch ganz anders deuten: als eine Art Zwangsreaktion der Lehrer auf das auffällige Verhalten von Jungen. Sie reden im Unterricht öfter und länger als Mädchen, sie unterbrechen häufiger, rufen wesentlich mehr ungefragt dazwischen. Sie erzwingen Aufmerksamkeit - positiv wie negativ - und werden deshalb weniger als Leistungsträger denn als Störenfriede empfunden.

Dass Jungen eine Rolle spielen, die nicht mehr gefragt ist, zeigt sich besonders beim Thema Gewalt. "Was noch vor 20 Jahren als Rauferei auf dem Schulhof durchgegangen wäre, ist heute ein Gewaltvorfall", sagt Reinhard Winter. Anders als Schüler verstehen Lehrer auch Spaßkämpfe oder verbale Attacken als gewalttätige Handlungen - und verurteilen sie dementsprechend. Damit würden sie eine Art, Konflikte zu regeln, die in einem bestimmten Alter für Jungen typisch ist, "in der Tendenz diffamieren".

Es ist nicht lange her, da wusste jeder genau, wie ein "richtiger" Junge zu sein hat: mutig, durchsetzungsfähig, aufmüpfig. Die ritualisierten Prügeleien zwischen den roten und den weißen Rosen in Astrid Lindgrens Kalle Blomquist (mit dem Ausnahmemädchen Eva Lotta), die Titanenschlacht zwischen den Realschülern und Gymnasiasten in Erich Kästners Fliegendem Klassenzimmer (diesem Lehrstück gelungener Jungenpädagogik), der gnadenlose Zweikampf zwischen Tom Sawyer und dem neuen Jungen im Städtchen: Wilde Kämpfe gehörten zum Jungesein dazu.

Jungen fallen aus der Rolle

Das Erziehungsziel der dazu passenden "schwarzen" Pädagogik bestand zum Teil darin, aus dem "Rohmaterial Junge" mit Strenge - heute sagen wir: mit Gewalt - "ganze Männer" zu formen. Diese Art von Erziehung ist zum Glück so gut wie ganz aus den Schulen verschwunden. Allerdings mit der Folge, dass damit auch den Jungen ein Teil ihrer Identitätsbasis unter den Füßen weggezogen wurde. Wer sich heute auf dem Schulhof oder in der Klasse der traditionellen Jungenrolle gemäß aufführt, wird von Lehrern als aggressiv und sozial defizitär empfunden und entsprechend behandelt.

Wie aber sollen sie sein, wenn die Vorbilder Tom oder Kalle nicht mehr gelten? Die Jungen wissen es oft selbst nicht: "Machogehabe find ich blöd, deshalb kann ich wirklich nicht sagen, was ich männlich finde", zitiert Winter einen von ihm Interviewten. Das gewandelte Geschlechterverhältnis macht sich besonders in einer Phase bemerkbar, in der Jungen ihre Männlichkeit das erste Mal ausprobieren, in der Pubertät. Schon biologisch sind Mädchen ihnen voraus. Jeder Blick in eine gemischte Klasse von 12- und 13-Jährigen zeigt die mitunter grotesken Entwicklungsunterschiede zwischen den körper- und Outfit-bewussten Power-Girls und ihren oft noch tapsig-kindlich wirkenden Klassenkameraden.

Früher konnten Jungen die Eigenarten der Mädchen noch als "Weiberkram" abtun. Heute müssen sie die Erfahrung machen, dass die als weiblich diffamierten Fähigkeiten nicht nur als "richtig" gelten, sondern auch eine starke Konkurrenz für die Zukunft verheißen. Als Frauen nach dem Schulabschluss größtenteils in der Familie verschwanden, waren sie nicht sonderlich bedrohlich für die männliche Karriereplanung. Jetzt aber sind sie - aus Jungensicht - zu Rivalinnen geworden.

Wenn Jungen dann aus Trotz und Ratlosigkeit noch mal einen draufsetzen, wird in den Augen von Eltern, Lehrern und Psychologen aus der Störung leicht eine Gestörtheit. Das Zappelphilippsyndrom ADS wird wesentlich häufiger bei Jungen diagnostiziert. Seelische Krankheit als Folge einer Pädagogik, die eines nicht wahrnimmt: Jungen sind anders, folglich lernen sie anders und brauchen einen anderen Unterricht. Vor allem brauchen sie Bewegungsfreiheit. Sie leben stärker nach außen, körperlich wie seelisch. Sie lernen weniger passiv, durch Zuhören, als durch eigene Aktionen und durchs Experimentieren.

Doch eine besondere Jungenpädagogik gibt es nicht - ebenso wenig wie eine für Mädchen. Die Schule nimmt auf die Lernstile keine Rücksicht. Und es wird so getan, als spielten sich Unterricht und Wissensvermittlung im geschlechtsfreien Raum ab; man ignoriert, dass Erziehung überwiegend in weiblicher Hand liegt. Frauen dominieren in den Kindergärten (95,4 Prozent), den Grundschulen (84,7), den Hauptschulen (53,1), den Sonderschulen (72,5) und den Realschulen (60,9). Nur bei den Gymnasien ist die Geschlechterverteilung ungefähr gleich (47,6), wobei die meisten männlichen Lehrer hier die Oberstufe, also junge Erwachsene, unterrichten. In der Welt von vielen Jungen, die bei alleinerziehenden Müttern aufwachsen, kommen Männer so gut wie überhaupt nicht vor. Dabei brauchen Jungen männliche Bezugspersonen und Vorbilder, wissen die Psychologen. Der hannoverische Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann kennt das Problem aus seiner Praxis: "Wenn ein Mann auftaucht, dann klammern besonders die kleinen Jungs." Sie sehnen sich nach "guter" Autorität, nach klaren Abmachungen und fairen Sanktionen. Damit überfordern sie jedoch die "modernen" Väter und Lehrer, die gelernt haben, dass Autorität Teufelswerk sei.

Auch Väter brauchen Hilfe

Mancher Vater hört mit fassungslosem Staunen, wie sein renitenter Schlaffi sich im Kampfsportkurs vom Trainer schinden lässt und ohne zu murren 30 Liegestütze fürs Zuspätkommen absolviert. Wenn Bergmann kleine Jungen therapiert, dann berät er die Väter gleich mit, schon aus der Sorge heraus, dass diese von einem Extrem ins andere fallen. "Autoritär wird in Deutschland gleichgesetzt mit Kleinmachen und Draufhauen, und nichtautoritär heißt Heiteitei und heile Welt. Beides ist für Kinder die Hölle."

Schon wird unter Fachleuten diskutiert, ob es nicht sinnvoller sei, Jungen und Mädchen wieder getrennt zu unterrichten. Bei der Förderung von Mädchen hat sich die Strategie bereits bewährt. Jungenprojekte gibt es dagegen nur sehr wenige. So können spezielle Lesekurse für Jungen durchaus erfolgreich sein, wie William F. Pollack am Beispiel einer englischen Schule beschreibt. Warum sollen Jungen und Mädchen im Deutschunterricht je nach Entwicklungsstand und Interessen nicht einmal unterschiedliche Bücher lesen?

Ebenso nötig ist es, mehr Männer an der Bildungs- und Erziehungsarbeit zu beteiligen. Den "Quotenmann in Kindergärten und Grundschulen" fordert die Berliner Erziehungswissenschaftlerin Renate Valtin - auch wenn niemand weiß, wo er herkommen soll. Vor allem aber wird viel davon abhängen, dass Eltern und Pädagogen nicht jede Form von Interaktion als Aggression oder gar gefährlichen Ausbruch von Gewalt interpretieren.

Den Jungen von heute gerecht werden - das klingt so einfach und ist so schwer umzusetzen. Die Literatur ist auch diesmal der Pädagogik einen Schritt voraus und lieferte das Modell einer zeitgemäßen Jungenidentität: Widrigkeiten aushalten, Probleme mit Köpfchen, Kampfgeist und Freunden lösen, eine Sonderrolle spielen, ohne ein Angeber zu werden - auf Kalle Blomquist und Tom Sawyer folgt der zauberhafte Harry Potter.

Artikel mit weiteren Links zum Thema: http://www.zeit.de/2002/31/Wissen/200231_b-schuljungen.html

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Erziehung

Lasst die Kinder allein!

Gebildet, trainiert, geschult - wo kann das Kind noch Kind sein? Ein Plädoyer gegen die überbehütete Schulzeit

Oggi Enderlein

Im Kleinkindalter werden die Weichen fürs Leben gestellt. Und zwar von den Eltern. Ihre Erziehung und ihre Zuwendung zum Kind entscheidet, welche Richtung die Entwicklung nehmen wird. In der Pubertät kommt dann heraus, wohin die Reise ging und wo sie endet - ob im Morast oder in blühenden Landschaften. So könnte man die seit Sigmund Freud vorherrschende Haltung zur Entwicklung von Menschen zusammenfassen. Fast alle Probleme, die ein Mensch hat oder macht, werden, wenn nicht auf die Gene, dann auf frühkindliche Störungen und auf ein schlechtes Elternhaus zurückgeführt.

Dass auch die Zeit zwischen etwa sieben und 13 Jahren für die Entwicklung der Persönlichkeit entscheidend ist, wird kaum gesehen. Sobald die Kinder in der Schule sind, ist zumindest in den bürgerlichen Kreisen höchstes Erziehungsziel, dass sie "gebildet", "trainiert", "geschult" werden. Die Bedeutung von Bildung und Ausbildung steht außer Diskussion - die Frage ist nur, was wir den Kindern antun, wenn wir uns zu einseitig darauf konzentrieren.

Denn auch die Themen, die neben der Bildungsfrage für Eltern im Vordergrund stehen, wenn es um den "richtigen" Umgang mit "großen Kindern" geht, orientieren sich in der Regel weniger an dem, was Kinder für eine gesunde Entwicklung brauchen, als an den Bedürfnissen der Erwachsenen, an äußeren Zwängen, an Idealvorstellungen und Ängsten der Eltern. Sie befürchten, dass dem Kind etwas zustoßen könnte oder dass es "schlechten Einflüssen" ausgesetzt sein könnte.

Darüber werden die Lebensbedürfnisse der Kinder oft vergessen. So sehr vergessen, dass die Kinder selbst ihren Gefühlen und Wünschen nicht mehr trauen. So sind die meisten Kinder der festen Überzeugung, dass ihre wahren Bedürfnisse jene sind, die ihnen von der Werbung und den Mitschülern vorgegeben werden.

Aggression und Hyperaktivität

Dass es Kindern in unserer Gesellschaft nicht gut geht, äußert sich in alarmierender Weise auch an den körperlichen und seelischen Krankheitssymptomen: Ängste, Aggressionen, Hyperaktivität, Hypersensibilität, Konzentrationsstörungen, Desinteresse, Allergien, Essstörungen, Depressionen. Die Reihe der Symptome wird länger, die Häufigkeit nimmt zu. Selbst Suizidversuche kommen schon bei Acht- bis Zehnjährigen vor. Die Diagnose der Therapeuten ist fast immer dieselbe: mangelnde Zuwendung durch die Eltern, Einfluss der Medien.

Wenn man aber die Kinder selbst befragt, wird erkennbar, dass diese Ursachen nur ein Teil der Wahrheit sind und dass hinter den "Störungen" oft der nagende Hunger nach einem kindgemäßen Leben steckt.

So äußerten zum Beispiel in Befragungen zehnjährige Jungen und Mädchen sehr klar, dass sie sich vor allem mehr Zeit und mehr Platz wünschen, um mit Gleichaltrigen unbeaufsichtigt draußen spielen zu können. Sie sehnen sich nach einfachen Spielen zu mehreren, etwa nach dem Muster von "Räuber und Gendarm". Sie wünschen sich, auf eigene Faust, aber in der Begleitung von Gleichaltrigen die Welt außerhalb des Elternhauses zu entdecken, zu erforschen und "für sich" zu erobern. Sie möchten aktiv sein, sich frei und ungezwungen bewegen können. Sie wollen nicht unentwegt unter Aufsicht stehen und angeleitet werden. Sie möchten nicht immerzu bewertet und beurteilt werden.

Die meisten Kinder stehen heute 24 Stunden am Tag unter der Kontrolle von Erwachsenen. Selbst wenn sie allein sind und fernsehen oder sich mit Computer- und den anderen Fertigspielen beschäftigen, sind ihre Tätigkeiten im Endeffekt von Erwachsenen bestimmt. Die Räume, in denen sich die meisten Kinder bewegen, sind reduziert auf das Kinderzimmer, bestenfalls einen kleinen Garten, im Großteil des Tages auf Unterrichtsräume, Pausenhöfe, Trainingsplätze, Sport- und Schwimmhallen, Freibäder. Das, was Kinder in diesen Räumen tun, ist schablonenartig vorherbestimmt und festgelegt. Eine selbst erfundene, selbst bestimmte Aktivität kommt so gut wie nicht mehr zu Stande. Auch eine freie, unbeaufsichtigte Begegnung mit anderen Kindern, eine kindgemäße Auseinandersetzung innerhalb der Gruppe von Gleichaltrigen ist so gut wie ausgeschlossen, allein schon weil die meisten Erwachsenen Angst davor haben, Kinder zusammen mit mehreren Freunden allein spielen zu lassen.

Dabei ist die selbst gewählte Gruppe - und die rivalisierende Gegengruppe! - der Gleichaltrigen aus verschiedenen Gründen nicht etwa ein schreckliches Übel, sondern für eine gesunde soziale und emotionale Entwicklung außerordentlich wichtig. Und wenn Kinder zu mehreren sind (mindestens zu dritt) passiert in der Regel wenig, weil sie gut aufeinander aufpassen. Voraussetzung ist aber, dass kein "zuständiger" Erwachsener in Sichtweite ist, weil dann die Verantwortung für die Einhaltung von Regeln und Grenzen automatisch an ihn delegiert wird. Für vieles, was Kinder für eine glückliche Kindheit bräuchten, gibt es keine Zeit, keinen Platz, keine Erlaubnis mehr.

Kinderfilme und Computerspiele

Auch "große Kinder", also Schulkinder sind noch Kinder und haben noch ganz besondere, entwicklungsbedingte Lebensbedürfnisse. Lebensbedürfnisse, die sich von denen der Kleinkinder und der Jugendlichen unterscheiden und die deshalb weder direkt durch elterliche Zuwendung befriedigt werden können, noch etwas mit angeleitetem Lernen zu tun haben, noch durch spezielle Angebote wie Kinderfilme, Computerspiele oder Freizeitparks und auch nicht durch modische Kleidung, Handys und dergleichen befriedigt werden können.

Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Blessuren, die sich Kinder beim selbst bestimmten - und durchaus nicht immer risikofreien - Spiel zuziehen oder sich gegenseitig zufügen, langfristig weniger ins Gewicht fallen, als die Nachteile, die unterdrückte Lebensbedürfnisse nach sich ziehen. Erwachsene sollten den Instinkten der Kinder wieder mehr vertrauen, statt sich all zu sehr von Ängsten leiten zu lassen. Erfahrung im Umgang mit Kindern und wissenschaftliche Studien belegen: Kinder, die wenigstens außerhalb der Schulzeit ein kindgemäßes Leben führen können, sind im Gegensatz zu den verwöhnten Kindern zufriedener.

Zufriedene Kinder sind leichter zu erziehen, brauchen weniger "Aufsicht" durch Erwachsene und sind körperlich und psychisch gesünder. Kinder, die nicht nur das lernen, was sie von Erwachsenen vorgesetzt bekommen, sondern die ausreichend Gelegenheit haben, auf eigene Faust und gemeinsam mit Altersgenossen die Welt zu erforschen und kennen zu lernen, erwerben Kompetenzen, die heute von den Personalchefs so sehr gefragt sind, weil sie immer seltener werden - Eigenständigkeit, Risikoabschätzung, Selbstdisziplin, Überblick, Improvisationsgabe, Teamfähigkeit, Menschenkenntnis, gute Laune. Eben jene Schlüsselqualifikationen, die man nur im selbst bestimmten, eigenverantwortlichen "Abenteuerleben" unter Altersgenossen erwerben kann.

Es werden Weichen gestellt in der Zeit zwischen Einschulung und Pubertät. Es sind die Lebenserfahrungen, die Kinder in dieser Zeit sammeln, die darüber entscheiden, ob sie aus eigener Kraft festen Boden unter die Füße bekommen.

Die Autorin ist Diplompsychologin und veranstaltet Coachings für Eltern, Lehrer und Erzieher. 2001 erschien bei dtv ihr Buch "Große Kinder. Die aufregenden Jahre zwischen 7 und 13".

3.9.2001 © Tagesspiegel Online Dienste Verlag GmbH

Vorteile eines Sitzballs

  1. Beim Ballsitzen können die Kinder ihren natürlichen Bewegungsdrang völlig lautlos abreagieren, ohne dabei den Unterricht zu stören.
  2. Durch aktives Sitzen verbrauchen die Kinder einen Teil ihrer überschüssigen Energie, werden dadurch ruhiger und können sich längere Zeit konzentrieren.
  3. Durch das Ballsitzen wird der Gleichgewichtssinn der Kinder gefördert - was auch ihrer psychomotorischen Entwicklung und damit ihrer Schreibentwicklung zugute kommt.
  4. Das Ballsitzen stärkt die Rückenmuskulatur und das Bandscheibengewebe, verhilft zu einer besseren Körperhaltung und beugt Rückenschmerzen im Erwachsenenalter vor (weil es einseitige=falsche Belastungen vermeidet).

Allerdings muss man sich bewusst sein, dass ein Sitzball allein keine Garantie für einen gesunden Rücken darstellt, auch auf dem Ball kann man falsch sitzen.

Lustiges Gedächtnistraining

Viele Dinge können wir uns leichter merken, wenn wir sie uns bildlich vorstellen. Nun ein Beispiel: Versucht euch mal den folgenden Text nach einmaligem Durchlesen zu merken.

Ein Zweibein saß auf einem Dreibein und aß ein Einbein. Da kam ein Vierbein und nahm dem Zweibein auf dem Dreibein das Einbein. Darauf schlug das Zweibein mit dem Dreibein nach dem Vierbein.

Ihr werdet sicher denken"Was soll dieser Blödsinn" und könnt den Text nach einmaligem Durchlesen nicht wiedergeben. Oder?

Hier nun die Auflösung, verratet sie nicht sofort, erst sollen die anderen, denen ihr vielleicht diese Aufgabe stellt, sich etwas abmühen.

Ein Zweibein ( Mensch) saß auf einem Dreibein (Hocker) und aß ein Einbein (Hähnchenkeule). Da kam ein Vierbein (Hund) und nahm dem Zweibein (Mensch) auf dem Dreibein (Hocker) das Einbein (Hähnchenkeule). Darauf schlug das Zweibein (Mensch) mit dem Dreibein (Hocker) nach dem Vierbein (Hund).

Jetzt, nachdem ihr den Trick kennt, ist es sicher recht einfach diesen Text wiederzugeben. Versucht doch mal selbst solche Texte zu bauen. Wenn euch beim Lernen mal etwas schwerfällt, versucht es mit diesem Trick und baut euch in Gedanken ein Bild oder eine Geschichte, ihr werdet das Gelernte sicher nicht wieder vergessen!$

(Quelle: hab' ich vergessen...)

Droge Verwöhnung

Plädoyer für eine andere Erziehung Von Albert Wunsch

Maßlosigkeit bei Geschenken und Süßigkeiten, Erfüllung aller Wünsche sofort, dauerndes Verhätscheln, Inkonsequenz, In-Watte-Packen bei kleinstem Unwohlsein, Aufgaben oder Konflikte für ein Kind lösen: Verwöhnung hat viele Gesichter - Auslöser für die Beschäftigung mit diesem Thema war eine Tauffeier mit vielen Kleinkindern: Fast alle hatten in der Kirche eine Nuckelpulle im Mund. Und jene, welche noch kein Getränk hatten, brauchten nur in die Nähe ihrer Eltern zu kommen, und schon bekamen auch sie eine Flasche. Ich dachte: Ob sich die Eltern der Wirkung ihres Tuns bewußt sind? Um ein Trinken als Reaktion auf Durst konnte es sich nicht handeln. Es war eine Form der Ruhigstellung. Aber selbst wenn Durst dagewesen wäre: Kann ein Kind keine Dreiviertelstunde warten? 

Jeglicher Wollensäußerung im Moment zu entsprechen heißt auch, Auseinandersetzung zu vermeiden und Anspruchsdenken zu fördern. Was, wenn mal wirklich eine Durststrecke ansteht, wenn es Entbehrung kostet, ein Ziel zu erreichen? In dauernder Bedürfnisbefriedigung heranwachsende Kinder werden panisch reagieren. Der Verzicht wird als persönlicher Angriff erlebt, dem mit Aggression begegnet wird. 

Ein Blick in die Schule zeigt, wie wenig belastbar Kinder und Jugendliche heute sind, kaum noch fähig, Kraft und Ausdauer als Voraussetzung von Erfolg - und daraus resultierender Zufriedenheit - zu sehen."Jedes Kind hat das Recht, vor verwöhnenden Eltern geschützt zu werden!" las ich dann vor einiger Zeit im Seminarraum eines psychologischen Institutes. Ich fragte nach, von wem der Satz sei. "Wir haben ihn als Ergänzung zur Konvention der Kinderrechte formuliert, er ist die konsequente Folgerung aus langjähriger Beratungsarbeit und vielen Erziehungsseminaren im Geiste der Individualpsychologie Alfred Adlers", sagte mir der Leiter des Instituts. Daraufhin beschäftigte ich mich erneut mit den Gedanken Alfred Adlers, las noch mal den Erziehungsklassiker Kinder fordern uns heraus und setzte mich intensiver mit dem Phänomen der Verwöhnung auseinander. 

Als Erstes wurde mir klar, daß zwischen Verwöhnung und situationsgemäßer Zuwendung deutlich zu unterscheiden ist. Zuwendung orientiert sich am anderen, an seinen Entwicklungsschritten, Erwartungen, Möglichkeiten und Grenzen, ist wohlwollend und ermutigend, auf Eigenverantwortung gerichtet. Dagegen tritt Verwöhnung zwar im Gewand der Zuwendung auf, orientiert sich aber an den Bedürfnissen des Verwöhners. Ob nun kontinuierlich Fehlverhalten hingenommen wird, Hürden weggeräumt oder angenehme Gefühlszustände ermöglicht werden, es geht um den eigenen Vorteil, nicht um das Wohl des Kindes. 

Ein konfliktfreies Miteinander wird zum Ideal. Erfolg wird ohne Vorleistung erfahrbar, Passivität belohnt. Es lebt sich wie im Schlaraffenland. Das Kind gewöhnt sich an den bequemen Mechanismus, alles leicht zu bekommen. Verwöhnen und Gewöhnen werden ein Paar. 

Die Folge ist eine Abnahme jeglicher Anstrengung. Das Kind wird permanent entmutigt. Anfangs wehrt es sich noch: "Kann allein" oder "will nicht" - später gibt es auf. Eigene Interessen haben keine Chance zur Verwirklichung, Willens- und Persönlichkeitsbildung findet nicht statt. Die Kraftlosigkeit führt auf Dauer zu Verwahrlosung, Aggression, letztlich zu Gewalt. Der postmoderne Asoziale steht vor uns. Verwöhnung hat einen hohen, nicht selten lebenslang zu zahlenden Preis. 

Es geht um eigene Vorteile, nicht um das Wohl des Kindes .

Weshalb verwöhnen Eltern ihre Kinder, Frauen ihre Männer und umgekehrt? Ein zentraler Aspekt liegt in der meist unbewußten Absicht, die eigene Position zu sichern, andere von sich abhängig zu machen. Frauen verwöhnen eher durch aktives Tun, Männer durch Vermeiden von Auseinandersetzung. Frauen verwöhnen häufiger als Männer, und Mädchen werden mehr als Jungen verwöhnt. Dafür haben es Mädchen etwas leichter, diese Deformation ihrer Persönlichkeit als Frau zu leben, da die aus der Verwöhnung resultierende Disposition zu Anpassung und Kompromiß eher mit der traditionellen Rollenerwartung "typisch weiblich" korrespondiert. 

Wenn Jungen verwöhnt werden, sind die Folgen für sie schlimmer als für Mädchen, weil sie kaum eine Chance haben, den klassisch männlichen Attributen wie mutig, stark, zielstrebig zu entsprechen. 

Verwöhnung hat für den Verwöhnenden die Funktion einer emotionalen Lebensversicherung. Der Satz: "Mein Kind ist mein ein und alles" zeigt überdeutlich, wo Veränderung einzusetzen hat. Denn in der Erziehung zu einem mündigen Menschen geht es nicht um "mein ein und alles", sondern darum, die uns anvertrauten Kinder zu einem eigenständigen Leben zu befähigen. Das Kind ist kein kuscheliger Schoßhund, darf fehlendes Glück in der Partnerschaft nicht ersetzen. 

Verwöhnung treibt das Kind dazu, permanent auf die unterschwelligen Erwartungen des überlegenen Verwöhners fixiert zu sein. Es gibt sich willfährig, hat Angst groß zu werden - weil dann die Zuwendung aussetzen könnte - und konzentriert sich aufs Gefallenwollen. Meist rächen sich solche Kinder später dafür. 

Denn wenn Erziehung sich als Verwöhnung etabliert, findet dies gesellschaftlichen Widerhall. Die zukünftige Generation wird zu kraftlosen, ängstlichen, leistungsschwachen, unmotivierten und angepaßten Egoisten, die sich nach Versorgtsein sehnen. Aber auf Dauer wird die vorgegaukelte Leichtigkeit des Seins zur Unerträglichkeit. 

Denn so wie der einzelne für seine Verwöhnung zu zahlen hat, muß die Gesellschaft zahlen für jene, die keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Arbeitsunwillige Sozialhilfeempfänger wie Schein-Arbeitslose verteidigen vehement ihren "Leistungsanspruch", die Verpflichtung zum eigenen Engagement lehnen sie brüsk ab. Auch die Familie als Keimzelle der Gesellschaft ist betroffen, weil sie nur existieren kann, wenn die Beteiligten wenigstens ebensoviel einbringen, wie sie selbst herauszuholen erwarten. 

Um verwöhnte Leser vor einem Mißverständnis zu bewahren: Es geht nicht darum, die verantwortungsbewußte Umsorgung von Kindern durch Mütter oder Väter in Frage zu stellen. Nein, der jegliche Aktivität blockierenden Verwöhnung wird der Kampf angesagt, weil sie Hilfsbedürftigkeit produziert. 

Es geht darum, daß der einzelne "das wunderbare Gefühl rechtschaffener Erschöpfung" spürt, zufrieden auf ein mit Mühe Geschaffenes blicken kann, wie es Patrick Süskind in dem Buch Das Parfum beschreibt. Es geht um die Ermutigung zur Auseinandersetzung, um ein emotional-soziales Krafttraining, das sich am anderen orientiert. 

Die wachsenden Erwartungen an Familie, Schule, Beruf und Freizeit erfordern vom einzelnen ein hohes Maß an sozialer Investitionsbereitschaft. Aufgeweichte Jammergestalten, ideenlos, frustriert, ohne Kraft, Mut und Zukunftsperspektive gibt es schon genug. Damit kann weder die Verantwortung für die nachwachsende Generation übernommen noch der Wirtschaftsstandort Deutschland abgesichert werden. Wie äußerte sich Bundespräsident Herzog vor einigen Monaten: Das große Problem in Deutschland sei eine "mentale Depression". Freude, Stolz, Zuversicht und Erfolg sind der Aura der Verwöhnung erlegen. 

Ob Einsicht, Zeit und Kraft reichen, die Mutation vieler Zeitgenossen zum Homo schlaraffiensis rückgängig, dem Lebensideal als Made im Speck den Garaus zu machen? 

Der Autor, Jahrgang 1944, hat zwei Kinder und ein Enkelkind. Nach einer Lehre als Kunstschlosser wurde er Sozialpädagoge und Erziehungswissenschaftler. Seit 1974 leitet er das Katholische Jugendamt Neuss 

© beim Autor/DIE ZEIT 1998 Nr. 41 All rights reserved.

Gute Schüler haben Angst vorm Strebervorwurf

Aus Angst, als Streber diffamiert zu werden, schöpfen gute Schüler und insbesondere leistungsstarke Mädchen ihr vorhandenes Leistungspotenzial oft nicht aus. Auf Dauer würden sie sogar leistungsschwächer, haben, Chemnitzer Soziologen laut einer Mitteilung der Technischen Universität. vom Donnerstag herausgefunden. Anders als in Nordamerika, wo gute Schulleistungen die Anerkennung in der Klasse erhöhten, würden sie in deutschen Klassen eher vermieden, um die Anerkennung der Klasse zu erhalten, hieß es.

In der Untersuchung gehen die, Wissenschaftler der Frage nach, warum der Streber-Vorwurf gerade in Deutschland so verbreitet ist. Für eine internationale Vergleichsstudie wurden den Angaben zufolge 650 deutsche, 500 kanadische und darüber hinaus 400 israelische Schüler befragt. Bei der Auswertung zweier Pilotstudien habe man festgestellt, dass in Deutschland herausragende Leistungen im Mathematikunterricht vor allem von begabten Mädchen vermieden würden, um nicht als "Streber" oder "Schleimer" zu gelten. Dies schlage sich in den Noten nieder. "Mädchen könnten im Matheunterricht viel besser sein als Jungen, aber sie haben zu wenig Selbstvertrauen und fürchten sich stärker davor, als Streber zu gelten", heißt es in der Mitteilung der TU Chemnitz. Bei den Jungen spiegele sich das objektive Leistungsvermögen dagegen viel eher in den tatsächlich erreichten Noten wider, Streberangst sei dabei nicht so ausgeprägt. Die Untersuchung der Chemnitzer Soziologen wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und ist Bestandteil des DFG-Schwerpunktprogramms. 

Die Ergebnisse lieferten eine mögliche Begründung für das vergleichsweise schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei der internationalen Pisa-Studie, die über das bislang Diskutierte hinaus reiche, hieß es.

 http:Ilwww.tu-chemnitz.de/phil/soziologie/boehnke/index.htm