"Lena , Lena ! Wach endlich auf !" Jetzt schreie ich schon seit zehn Minuten , aber meine große Schwester schläft immer noch. "Lena, du wolltest doch mit mir zum Jahrmarkt gehen ! Es ist schon fast halb zwölf !" Endlich öffnet Lena ein Auge und murmelt : "Halb zwölf ? Jahrmarkt ? Okay, ich komme ja schon !" Aber statt aufzustehen , dreht sich Lena auf die andere Seite und schläft wieder ein. Diese alte Ziege ! Nie kann man sich auf sie verlassen. Ihr Schönheitsschlaf ist ihr natürlich wichtiger als mit ihrem achtjährigen Bruder zum Jahrmarkt zu gehen ! Schmollend verlasse ich Lenas Zimmer. Dann werde ich eben alleine zum Jahrmarkt gehen, ohne jede Begleitung ! Ich grapsche mir Lenas Geldbeutel aus dem Schrank und trete vor die Tür. Dann renne ich los. Vorbei an den vielen Häusern, vorbei am Kiosk, vorbei am Supermarkt bis ich endlich nach einer Viertelstunde den Jahrmarkt erreiche. Mein Ziel ist der Zauberer. Jedes Jahr könnte ich stundenlang seine Kunststücke bewundern. Vor dem Zelt des Zauberers bleibe ich stehen. Ob er wieder ein neues Kunststück vorbereitet hat ? Gedankenverloren betrete ich das Zelt, vor dem ein großes Schild mit folgender Aufschrift steht :

Der große Zauberer Cedrico Mantoani ist wieder da !
Tretet ein und lasst euch von seinen Tricks beeindrucken !

Im Zelt drängen sich schon viele Leute. Darunter entdecke ich meine beiden Freunde André und Johannes. Aufgeregt unterhalten sich die beiden. Als sie mich sehen, kommen sie zu mir. André ruft : "Hallo, Sebastian, Cedrico ist einfach toll ! Weißt du, was er mit einem kleinen Jungen namens Mick gemacht hat ? Er hat ihn in eine Maus verwandelt !" "Und weißt du, was Mick gemacht hat ?", fragt mich Johannes. "Er hat über beide Hamster ... äh, Mäusebacken gegrinst.  Wahrscheinlich war es schon immer sein Wunsch, eine Maus zu werden !" Plötzlich schreit Cedrico in die Runde :  "Wer ist bereit, mir bei einem Trick behilflich zu sein ?" Meine Hand schnellt hoch, was Mantoani auch sofort sieht. "Dann komm mal her, mein Junge !", ruft er mir zu. Als ich nach vorne zum Zauberer gehe, spüre ich die Blicke der Zuschauer im Nacken. Freundlich lächelt mich Mantoani an und sagt : "Hallo, Sebastian ! Ich wusste, dass du dich melden würdest !" "Wo... woher wissen Sie, wie ich heiße ? !", stottere ich. "Ich ..., ich meine ... ! !" "Tja, ich bin halt ein Zauberer. Dazu noch der größte und mächtigste aller Zeiten. Aber jetzt zu meinem Trick. Hier siehst du drei Hütchen", sagt Cedrico und zeigt auf ein Tischchen, das er soeben gezaubert hat. "Unter einem der Hütchen befindet sich Mick." Und tatsächlich, als Cedrico ein Hütchen hochhebt, sitzt dort Mick, die Maus. Der Zauberer stülpt das Hütchen wieder über die Maus. Er schiebt die drei Hütchen blitzschnell hin und her und fragt mich anschließend : "Na, Sebbi, unter welchem Hütchen glaubst du sitzt die Maus ?" Ich weiß noch ganz genau wo sie sitzt, weil ich vorhin, als der Zauberer die Hütchen vermischt hat, gut aufgepasst habe. Also zeige ich auf das mittlere Hütchen. "Irrtum !", meint Mantoani, "die Maus sitzt auf meiner Hand." Stolz zeigt er mir Mick, der tatsächlich auf Cedricos Hand sitzt. Dann hebt er das Hütchen auf, auf das ich soeben gezeigt habe, und wer steht da?!? Ich traue meinen Augen nicht. Ich stehe da ! ! ! Nur bin ich viel kleiner als in Wirklichkeit ! Gibt es mich denn doppelt ? ! ? Anscheinend ja. Schmunzelt beobachtet mich der Zauberer. "Das hättest du nicht erwartet, was ?", fragt er mich. Mein kleiner Doppelgänger will mir die Hand schütteln, aber ich bin so erstarrt, dass ich mich nicht rühren kann. Ohne ein Wort zu sagen, verlasse ich darauf das Zelt.

Nachdenklich mache ich mich auf den Weg nach Hause. Ob ich mit jemandem über meinen Doppelgänger reden soll ? Wird mir jemand glauben ? Wohl kaum. Oder vielleicht doch ? Na klar, André und Johannes haben doch alles gesehen ! Gleich nachher werde ich sie besuchen. Aber erst mal nach Hause ! Doch kaum stehe ich vor unserer Haustür, piepst eine dünne Stimme hinter mir : "He, warte ! Ich kann nicht mehr ! Bitte !"
Erschrocken drehe ich mich um. Unten, bei meinen Schuhen, steht mein Doppelgänger. Er ist völlig außer Puste. "Du bist ja gerannt wie ein Irrer !", keucht er. Dabei bin ich außergewöhnlich langsam gegangen. "Wie ist das möglich ?", frage ich ihn unsicher. "Ich ... ich meine ... irgendwie traue ich Cedrico nicht." "Was ?" "Ich" reißt entsetzt die Augen auf. "Du traust dem großen Meister nicht ? Ich weiß, seine Tricks scheinen unglaublich zu sein, aber ein Lügner ist er ganz bestimmt nicht ! ! Aber ein unendlich guter Zauberer, das ist er, jawohl ! Und jetzt nimm mich mit in die gute Stube, ich bin am Verhungern !" Ich verstecke den Winzling in meiner Tasche, öffne die Haustür, und würde sie am liebsten gleich wieder schließen. Denn schon kommt meine ganze Familie auf mich zugestürmt. Meine Mutter umarmt mich, Tante Gerlinda ruft :  "Wo warst du nur so lange ? !" Onkel Micky klopft mir freundschaftlich auf den Rücken und Lena hat Freudentränen in den Augen. Ich befreie mich aus Mutters Umarmung und gehe in mein Zimmer. Ich nehme Mr. Winzling aus der Tasche und füttere ihn mit Schokolade aus meinem Vorrat. "Und du willst jetzt hier wohnen bleiben ?", frage ich ihn. "Na klar", antwortet er. "Und zwar da !" Er zeigt auf mein altes Puppenhaus. Ich bin begeistert von der Idee. Nachdem ich alles in seinem neuen Heim frisch eingerichtet habe, ist der Kleine zufrieden.

Mein neuer Freund wohnt nun schon seit einem Monat bei mir und wir sind inzwischen die besten Kumpels geworden. Besten Dank, Cedrico Mantoani !

Sophie (Dezember 2003)